✍🏼Die geheimnisvolle Einladung
Der letzte Vollmond im Jahr – Wenn die Sonne sich schlafen legt
Die geheimnisvolle Einladung
Ein verschneiter Nachmittag. Ich stehe in der Küche, der Duft von Kaffee hängt noch in der Luft. Da liegt er. Ungefragt. Ein Umschlag auf meinem Küchentisch. Ich weiß, dass ich ihn dort nicht hingelegt habe. Er müffelt vor sich hin. Ein leicht modriger Geruch begleitet ihn. Als ob er seit Gutenbergs Bibel-Druck dort schlummert. Keine Adresse. Nur eine Nachricht, die mich kopfschüttelnd trifft, und den Bogen meiner Neugier spannt:
„Heute Nacht. Mitternacht. Wenn die Mondin zum letzten Mal im Jahr im vollen Glanze erstrahlt, wartet ein Abenteuer auf dich. Bring Mut und Worte mit. Treffpunkt: Alte Bibliothek.“
Ich schüttele den Kopf und lache – kurz und bitter. Ein Scherz? Vielleicht. Aber irgendwas in der Nachricht klopft gegen meine Brust. Ist sie nur für mich?
Der Abend rückt näher, und mit ihm wächst dieses seltsame Kribbeln in mir. Ich will nicht, aber es zieht mich. Die Zahlen der Backofenuhr blinken mir auffordernd entgegen: 23:00. Ich ziehe meinen dicken, tiefschwarzen Daunenmantel mit silbernem Innenfutter an. Gehe hinaus. Die Nacht umarmt mich und legt ihre kalten Finger in meinen Nacken.
Der Schnee liegt wie ein glitzernder Teppich vor mir und flüstert unter meinen Füßen: „Komm schon, trau dich.“
Die volle Mondin hängt am Himmel – hell, fast spöttisch. Sie scheint zu sagen: „Na endlich! Da bist du ja.“ Ein Blick, der mich kitzelt, provoziert, aber auch etwas in mir weckt.
Angekommen!
Vor der alten Bibliothek stehen sie. Viele. Wie komme ich darauf, dass nur ich gemeint bin? Alles was ich sehe ist eine wabernde Maße Menschen, deren Atem-Wölkchen sich in der Luft verbinden.
Es sind Frauen, Männer, Menschenwesen. Jung, alt, bunt. Wir blicken uns an. Fragende Augen. Neugierige Herzen. Stumme Antworten. Neugier trifft Hoffnung, Zweifel trifft Mut. Ein gemeinsames Zittern der Erwartung liegt in der Luft.
Und dann erscheint sie: eine runde, wendige Gestalt in einem langen stylischen Step-Mantel. Sie erinnert an das Michelin-Männchen aus den 1980ern. Das Gesicht zur Hälfte im Schatten. Stumm reicht sie uns einen Zettel. Kein Blick, kein Wort. Nur dieser eine Zettel. Für jeden.
Ich schnappe nach Luft. Greife nach dem Zettel. Meine Finger zittern leicht.
Der Zettel fühlt sich schwer in meiner Hand an, als ob er alte, sperrige Geheimnisse in sich trägt. Ich öffne ihn und lese drei Fragen:
Was liegt dir auf der Zunge, bereit endlich ausgesprochen zu werden? – Sei es zu einer Freundin, im nächsten Meeting oder zu deinem eigenen Spiegelbild?
Welche Momente und Träume willst du endlich in die Realität bringen? – Ein neues Hobby? Ein wichtiges Gespräch? Eine berufliche Veränderung?
Was würdest du heute noch ausprobieren, wenn du wüsstest, dass es klappt? – Der eine Anruf? Das Zweiminuten-Video endlich hochladen? Oder einfach mal den Stift in die Hand nehmen und schreiben?
Ich starre auf die Fragen. Sie klotzen zurück. Die Worte auf dem Zettel klopfen gegen meine Herzwand, wie der Klöppel gegen die Glocke in der Turmuhr.
Das Michelin-Männchen verschwindet fast unbemerkt in der Bibliothek. Die Türen scheinen zu spüren, dass wir kommen, und schieben sich sanft für uns beiseite. Ein prickelnder Schauer wandert durch meine Wirbelsäule. Es fühlt sich an, als ob etwas in mir spricht – eine Stimme, die längst da ist, dich ich aber zu oft ignoriert habe. Sie flüstert: „Du musst nicht erklären, was du willst. Du musst nur fragen – und dann hören.“
Die Tür schließt sich hinter mir. Plötzlich stehe ich alleine da. Vor mir ein alter Schreibtisch, ein leeres Buch liegt offen und neugierig vor mir. Die Seiten starren mich fragend an. Ein ungeduldiger Stift wippt daneben. Bin ich hier in Harry-Potter’s Land gelandet? Die Regale sind gefüllt mit Büchern, deren Seiten Geschichten atmen, die längst geschrieben wurden.
Ich setze mich an den Schreibtisch und spüre die Kälte des Holzes durch meinen Mantel wie kleine Nadeln. Mein Herz klopft laut in meiner Brust. Na wenigstens etwas in mir bewegt sich. Die Fragen aus dem Zettel schießen durch meine Gedanken und poltern wie kleine Geister umher. Mir wird schwindelig:
„Hör auf, dich selbst zu rechtfertigen oder Antworten zu suchen, die deinen Kopf nur noch mehr verknoten. Atme tief durch. Lass diese Fragen einfach mal wirken, und die Antworten aus deinem Bauch kommen. Aus dieser inneren Herzstimme, die dir unaufhörlich flüstert was du wirklich willst, nicht das, was andere erwarten. Diese Stimme, die sich anfühlt wie du, wenn deine Brille geputzt ist. Ungefiltert und klar, auch wenn es Angst macht.“
Ich beginne zu schreiben.
1. Was liegt dir auf der Zunge, bereit endlich ausgesprochen zu werden?
Meine Hand zittert, aber ich schreibe:
„Zu viel. Zu viel Kaffeeklatsch, zu viel Smalltalk, zu wenig Mut zu echten Worten:
„Ich weiß nicht, wie das geht, aber ich probiere es trotzdem.“ Das wollte ich neulich im Meeting sagen, hab aber nur wissend genickt, als ob ich Excel persönlich erfunden hätte. Manchmal liegt die Wahrheit schwerer auf der Zunge als ein Drei-Gänge-Menü im Magen. Vielleicht, weil sie entwaffnend ehrlich ist – oder weil sie einem das Gefühl gibt, dass andere plötzlich wirklich hinschauen könnten. Aber was, wenn genau das neue Türen in mir öffnet?”…
Der Stift kratzt über das Papier. Ich spüre das Zittern meiner eigenen Stimme, die hier zum ersten Mal Raum bekommt.
2. Welche Momente und Träume willst du endlich in die Realität bringen?
Ich schreibe weiter:
„Einen Poetry Slam im Wohnzimmer. Einen Kaffee-Crema mit Vannillemilch als mein loyalster Begleiter. Mehr Lacher, weniger To-Do-Listen. Mehr ‘Ich’ und weniger Erwartung. Heißt:
“Da ist dieser Traum, eines Morgens aufzuwachen und einen Tag lang nur das zu tun, was mir wirklich Spaß macht. Nicht das, was auf der To-Do-Liste steht, sondern das, was zwischen den Zeilen flüstert: „Schreib ein Gedicht über deine Kaffeemaschine!“ Es klingt verrückt, aber genau das kitzelt mich – das Verrückte, das plötzlich das Leben (neu) ordnet. Vielleicht fang ich morgen an... Was?! Oder heute, nach dem Staubsaugen. Hallo, hast du die Frage gelesen?! Verstanden! JETZT.
Das Gefühl des Verrückten, das das Leben (neu) ordnet – es entfaltet sich in meiner Schrift.
3. Was würdest du heute ausprobieren, wenn du wüsstest, dass es klappt?
Die Worte fließen weiter:
„Einfach mal den Toaster anschreien. Nein, eigentlich: einfach mal anfangen zu schreiben. Ohne Checkliste. Ohne zweifelnde Nager in mir:
“Einen Wohnzimmer Poetry Slam – von mir für mich. Warum nicht? Das Leben fühlt sich eh oft an wie eine Dauer-Bühne. Nur dass in meinem Leben häufig andere die Bühne bespielen. Es geht nicht darum, ob ich gewinne, sondern ob ich mutig genug bin, meine Gedanken in Geschichten zu formen. Ob laute oder leise Geschichten, egal. Und wenn’s keiner hört – der Toaster applaudiert immer.”
Da liegen sie. Die Antworten. Kleine bunte Mosaiksteinchen. Lose und chaotisch. Zusammenhangslos. Worte, die bisher nur in mir wild auf und ab gehüpft sind, beginnen nun, ihre eigene Geschichte zu verlangen.
Mein Handgelenk stöhnt. Mein Magen grummelt und mein Hirn gibt endlich Ruhe.
Ich schaue hoch – die Zeit ist um. Das Buch ist voll. Kein neuer Kassenschlager. Aber ehrlich. Jede Zeile ein kleines Ein-Geständnis und eine Liebeserklärung an das, was jetzt nicht mehr in mir rumort.
Ich lege den Stift hin. Meine Finger glühen wie zwei Heizkissen. Mein Nacken freut sich. Mein Gesicht schmunzelt.
Die Füße tragen mich ins Mondlicht. Alle stehen wir in der hellen Nacht. Unser Büchlein in der Hand. Blicke treffen sich für einen Moment. Die Atem-Wölkchen hauchen stilles Einverständns: Wir alle starten irgendwo! Der nächste Schritt ins Ungewisse und der kleinen Frage: Wohin trägt mich dieser Weg?
Reflexionsfragen zum vollen Mond in Zwillinge
Welche Wahrheit trägst du in dir, die endlich ausgesprochen werden will?
Was hält dich davon ab, klar zu sagen, was du wirklich willst?
Was hindert dich daran, deine eigene Geschichte zu schreiben?
Welche Gedanken oder Gefühle trägst du unnötig mit dir rum, die du endlich mitteilen oder gerne loswerden würdest?